33.
Sharleen hatte die angegebene Nummer schon zwei Wochen lang angerufen, Dobe jedoch nie erreicht. Sie wollte ihre Versuche noch zwei Wochen fortsetzen und dann 'die Kartons anderswo lagern.
Diesmal wurde nach zweimaligem Klingeln abgehoben. Sharleen hörte Dobes fröhliche Stimme.
»Dobe Samuels, du wirst mir einiges erklären müssen. Ich versuche täglich, dich zu erreichen. Wo warst du nur? Und was willst du mit all diesen linken Schuhen?«
»Sharleen, mein Liebes! Du hast es also erledigt. Für wieviel?«
»Sechzig Dollar. Aber beantworte meine Fragen.«
»Tut mir leid, Sharleen, ich mußte die Stadt aus geschäftlichen Gründen verlassen. Ich hätte dich allerdings anrufen sollen. Da hast du recht.«
»Wozu brauchst du diese Latschen?« Sie versuchte streng zu klingen, konnte Dobe aber nicht böse sein. Dazu freute sie sich zu sehr, seine Stimme zu hören.
»Nicht Latschen, Kindchen. Die besten Aerobicschuhe, die man kaufen kann. Du mußt wissen, daß ich jetzt in Ex- und Import mache, Sharleen. Und ich brauchte diese >Latschen<, wie du sie nennst, für einen Kunden. Aber der Einfuhrzoll auf Paare ist so hoch, daß ich nie daran verdient hätte. Darum habe ich die Schuhe in zwei getrennten Lieferungen verschicken lassen. Eine Lieferung linker Schuhe nach Los Angeles, eine Lieferung rechter nach Portland.« Dobe kicherte vergnügt. »Als niemand kam, um die Schuhe abzuholen und den Zoll zu bezahlen, wußte ich, daß sie versteigert werden würden und niemand nur linke oder rechte Schuhe würde haben wollen. Also habe ich die ganze Sendung ohne Zollgebühren bekommen und einige tausend Dollar gespart. Ist das nicht toll?«
Dobe war wirklich glatter als ein Aal. »Dobe, war in den Absätzen der Schuhe irgendwas drin? Du weißt schon, wie Drogen oder so. Das muß ich wissen.«
»Aber Sharleen, ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich dich nie in Gefahr bringen oder dir schaden würde. Du und Dean, ihr seid wie meine Familie. Du kannst mir völlig vertrauen.«
»Das ist gut. Ich habe nämlich vor kurzem gelesen, daß jemand in Miami verhaftet wurde, weil er in den Absätzen Drogen geschmuggelt hat. Da bekam ich Angst. Dobe, machst du noch immer diese Pillen?«
»Das sage ich dir alles heute abend.«
»Heute abend? Kommst du heute zu uns?« 0 Gott, Momma wollte ja auch kommen! Aber Dobe war natürlich willkommen. Vielleicht konnte er ihnen sogar wegen Momma einen Rat geben. »Wie lang kannst du denn bleiben? Du wirst doch eine Weile bleiben, ja, Dobe? Wir haben ein großes Haus. Warte nur, bis du es siehst. Ach, wenn das Dean erfährt!« Sie erklärte ihm, wie er sie erreichte und daß er sich beim Sicherheitsdienst ausweisen mußte.
Plötzlich sah die Welt für Sharleen anders aus. Sie lief zu Dean, den sie, wie üblich, im Garten fand.
Dean hatte den ursprünglich völlig verwilderten Garten in ein kleines Paradies verwandelt, das den ersten Preis in jedem Gartenbauwettbewerb verdient hätte. Dean liebte jede Pflanze. Es gab einen kleinen Bestand an Obstbäumen, dazu einen Gemüsegarten mit Kirschtomaten, drei Arten Salat, Lauch, Zwiebeln, Kohl, Brokkoli, grünen und gelben Bohnen, Möhren und Erbsen. An den Gemüseteil schloß sich ein Fischteich an. Dean fütterte die eingesetzten Karpfen von einer Holzbrücke aus, die er über den Teich gebaut hatte.
Am schönsten fand Sharleen die Blumen. Allein das Staudenbeet erstreckte sich über zehn Meter. Dean hatte all die altmodischen Blumen gepflanzt, die er besonders liebte: Pfingstrosen, Rittersporn, Fingerhut, Stockrosen und Ringelblumen.
Zusätzlich zu den ausdauernden Pflanzen hatte er um den Rasen einjährige gepflanzt, wie Stiefmütterchen, Zinnien und Kapuzinerkresse. Der Rosengarten erfüllte ihn mit besonderem Stolz.
Momentan spielte er mit den Hunden auf dem kurzgeschnittenen Rasen.
»Momma war gestern hier als du fort warst«, erzählte er Sharleen sofort bedrückt.
»Ach ja, das hätte ich dir sagen sollen. Sie wollte vorbeikommen, um sich einen Umschlag abzuholen, den ich für sie auf den Tisch gelegt habe. Sie war knapp bei Kasse.«
»Sie blieb nicht lang. Sie wollte nur den Umschlag holen. Allerdings hat sie eine Menge Fragen gestellt, wegen... nun, wie wir zusammen schlafen und so.« Dean brach ab. »Sharleen, das ist alles nicht so, wie ich es mir gedacht habe. Ich hatte gehofft, wir wären mit Momma wieder eine richtige Familie. Aber sie ist anders geworden. Sie ist alt und riecht ständig nach Whisky. Sie kommt mir gar nicht mehr wie unsere Momma vor.«
Sharleen mußte ihm insgeheim beipflichten. Es ließ sich kaum ein gutes Haar an Momma finden. Sie war Alkoholikerin und dachte nur an sich selbst. Die Ausbildung hatte sie längst an den Nagel gehängt. Offenbar hatte sie vor, sich von Sharleen und Dean durchfüttern zu lassen. Zudem traute Sharleen ihrer Momma nicht mehr. Man konnte nicht ausschließen, daß sie sich wegen Dean und Sharleen an die Presse wenden würde.
Um ihn aufzuheitern, sagte sie: »Rate mal, wer heute abend kommt, außer Momma meine ich. Es ist nicht einer, sondern zwei. Welche zwei möchtest du lieber als alle anderen auf der Welt sehen?«
Dean brauchte nicht zu überlegen: »Oprah und Dobe.«
»Richtig, mein Schatz. Sie besuchen uns heute abend.«
Da riß Dean Sharleen glücklich in seine Arme und jubelte. An diesem Abend saßen sie zu viert um den Tisch im Eßzimmer. Momma sah Dobe mit einem breiten Lächeln unverwandt an. Sharleen fragte sich, wieviel sie getrunken hatte. »Du bist ein toller Mann, Dobe Samuels. Ich wette, daß dir die Frauen nur so nachlaufen.« Flora Lee zwinkerte ihm vielsagend zu. Während des Essens hatte sie exaltiert über seine Späße gelacht und ihm wiederholt versichert, wie schlau er sei. Dean achtete glücklicherweise nicht darauf. Er hatte Oprahs Kopf auf seinem Schoß und fütterte den Hund mit Leckerbissen von seinem Teller.
»Also, ich muß mal für kleine Mädchen«, erklärte Flora Lee und verließ den Tisch. Der viele Alkohol machte ihren Gang unsicher.
Dean stand auf und legte die Kotelettknochen zusammen. Oprah und die drei jungen Hunde sprangen um ihn herum. »Wir gehen mal raus«, verkündete er.
»Ein reizender Bursche«, meinte Dobe. »Allem Anschein nach führt ihr hier ein feines Leben.«
»Der Eindruck täuscht.« Sharleen mußte es einfach mal jemandem erzählen. Sie wollte sich nicht beklagen. Doch nur Dobe würde verstehen, warum Sharleen nicht glücklich war.
Sharleen erzählte also, wie sie den Job als Schauspielerin im Fernsehen bekommen hatte und wie ihr Leben sich seither verändert hatte. Das Gute wußte er ja schon. Sie erzählte ihm nun von dem, was sie verloren hatte, indem sie soviel gewann. Denn Sharleen hatte nicht wissen können, daß Erfolg und Geld nur im Tauschhandel zu haben waren.
Sie hatte dabei ihre Freiheit eingebüßt. »Ich kann nicht mehr allein ausgehen, weder ins Kino, noch zu anderen Leuten. Ich kann in keinem Supermarkt einkaufen, obwohl ich es mir leisten könnte, den ganzen Laden zu kaufen. Für alles brauche ich Wagen und Leibwächter. Leibwächter, Dobe! Außerdem bin ich grenzenlos müde. Immer. Die Männer laufen mir schlimmer nach als vorher.«
»Was ist denn mit deiner Momma, Sharleen? Kannst du dich mit ihr unterhalten?«
Sharleen wischte die Tränen aus den Augen. »Sie ist plötzlich bei uns aufgetaucht. Natürlich wollten wir sie wiedersehen. Erst war ich richtig froh. Aber jetzt? Sie ist nie so lang nüchtern, daß man sich mit ihr unterhalten kann. Sie kommt nur, um Geld zu holen. Dann geht sie in die Bars und wirft damit um sich. Dean mag sie nicht. Das ist eine Sünde, Dobe, aber ich kann es ihm nicht übelnehmen. Denn Momma will gar nicht nett sein. Ständig will sie mehr. Außerdem hat sie nun angefangen, Fragen zu stellen. Neugierige Fragen. Darüber regt Dean sich auf. Er erinnert sich noch von früher an sie. Aber jetzt mag er sie nicht mehr. Ich wünschte, sie hätte uns nie gefunden.«
Dobe stand auf. Er zog Sharleen vom Stuhl hoch und drückte ihren Kopf an seine Schultern. So hielt er sie fest in seinen Armen. Sharleen weinte, wie sie seit ihrer Kindheit nicht mehr geweint hatte.
»Deine Momma hat jetzt ein bißchen viel getrunken. Was hältst du davon, wenn ich sie nach Hause bringe und zusehe, daß sie nicht in Schwierigkeiten gerät?«
Sharleen nickte. Ein wenig besser ging es ihr jetzt schon.